Die richtige Entscheidung treffen: Durchhalten oder Loslassen?

Kennen Sie den Begriff Pyrrhussieg? Das ist ein Sieg, der einer Niederlage gleichkommt. Ein Sieg mit erheblichen Verlusten. Im 3 Jh. Vor Christus zog König Pyrrhus von Epirus für die Griechen in den Krieg gegen die Römer. Er besiegte sie in der Schlacht bei Asculum (heutiges Süditalien). Dabei ließen jedoch so viele seiner Männer ihr Leben, dass Pyrrhus gesagt haben soll:  „Noch so ein Sieg – und wir sind verloren!“

Unsere Gesellschaft ist voll von „Durchhalte-Parolen“: Nur nicht aufgeben, das Ziel im Auge behalten, sich nicht beirren lassen, die Flinte nicht ins Korn werfen! – auch wenn wir in unserem Inneren schon spüren, dass  eine Korrektur nötig ist, wagen wir es nicht, den einmal eingeschlagenen Weg abzubrechen…
Durchhaltevermögen gilt als wertvoller Charakterzug. Wer immer weitermacht und kämpft, ist eine starke, bewundernswerte Person. Vor so jemandem haben wir Respekt. Wer von seinem Ziel ablässt, wer Dinge nicht zu Ende bringt, scheint ein schwacher Charakter zu sein, gar ein Verlierer, von dem es sich fernzuhalten gilt.

Doch nur selten bringt stures Ausharren den erträumten Erfolg und das große Glück. Häufiger zermürbt und frustriert es, weckt Unsicherheiten und Selbstzweifel. Die übermäßig positive Wahrnehmung der Ausdauer lässt sowohl die Funktion als auch die Bedeutung des Aufgebens in den Hintergrund treten. Dabei ist das Aufgeben ein grundlegendes Instrument eines selbstkorrektiven Handelns. „Das hartnäckige Festhalten an blockierten Zielen und unergiebigen Projekten kann in der persönlichen Lebensplanung zu erheblichen Fehlentwicklungen führen“, erklärt der Psychologe und Autor Jochen Brandtstädter. Das unerbittliche Verfolgen von Zielen hat seinen Preis. Es zerrt nicht nur an der Psyche, sondern auch am körperlichen Wohl. Das bestätigen unter anderem die Studien des Motivationsforschers Carsten Wrosch an der Concordia University in Montreal. Umgekehrt fand Wroschs Team in drei Studien heraus, dass Menschen, die in der Lage sind, sich von unerreichbaren Zielen zu lösen, glücklicher sind als diejenigen, die weiterhin daran festhalten. Andere Studien, ebenfalls von Wrosch und seinem Team, zeigen: Wer schwer erreichbare Ziele aufgibt, erfährt eine Steigerung seines körperlichen Wohlbefindens, unter anderem weil die Produktion des Stresshormons Kortisol zurückgeht.
Diese Beobachtungen bedeuten nicht, dass man alle Ziele und Träume aufgeben sollte, die viel Einsatz und Mühe verlangen. Doch für eine glückliche Lebensgestaltung bedarf es grundsätzlich einer gesunden Balance aus Durchhalten und Aufgeben. Dies bedeutet, sich tatkräftig für die eigenen Wünsche und Träume einzusetzen, ihnen jedoch nicht blind hinterherzueilen und sich zu verrennen. „Gewinner geben ständig auf“, erinnert der Philosoph Robert Goodin. Und darin liegt die Kunst des Aufgebens: zu wissen, wann es aufzuhören gilt. Diese Kunst lässt sich erlernen.

Warum Aufgeben so schwerfällt

Nicht selten weckt die gesellschaftliche Voreingenommenheit gegenüber dem Aufgeben negative Gefühle wie Scham, wenn man ein Vorhaben abbrechen möchte. Wir schämen uns oder haben sogar Angst davor, als Versager dazustehen – und hält deshalb halten wir immer weiter an unserem Ziel fest. Dass Aufhören oft keine Option zu sein scheint, liegt aber auch an psychischen Prozessen: Sobald wir ein Ziel ins Auge fassen, kommen Steuerungsmechanismen in Gang, die unsere Gedankeninhalte in den Dienst der Realisierung stellen. Zu diesem Zweck werden bestimmte Informationen wie zum Beispiel entmutigende Fakten ausgeblendet. Stattdessen messen wir vorzugsweise jenen Informationen viel Bedeutung bei, die uns bei der Umsetzung unseres Zieles bestärken.

Ein anderer Mechanismus, der zur Verwirklichung des Vorhabens anstachelt ist der Effekt der „versunkenen Kosten“. Dieser bezeichnet die Neigung, an einem ungünstig verlaufenden Projekt stärker festzuhalten, wenn man bereits viel Zeit oder Geld oder auch beides darin investiert hat. „Wenn man aber über die Kosten nachdenkt, dann liegt es nahe, das Ziel weiter zu verfolgen“, so Veronika Brandstätter-Morawietz von der Universität Zürich. Kosten will schließlich jeder möglichst vermeiden. Dabei lohnt es sich nochmal gegen zu checken: Ist mir das angestrebte Ziel nach wie vor wichtig? Haben sich Umstände verändert, so dass sein Erreichen unrealistisch geworden ist – egal wie viel Mühe ich mir gebe? Wurden kritische Hürden genommen und wichtige Meilensteine erreicht?   Das überlegte Loslassen eines Ziels ist ein schwieriger Vorgang, für den es Zeit und Ruhe braucht.

Wie man den richtigen Zeitpunkt erkennt

Das körperliche und geistige Wohlbefinden sowie eine realistische und wiederholt reflektierte Vorgehensstrategie unterscheiden ein erfolgreiches Zielerreichen von einem Pyrrhussieg. Egal wie wichtig ein Ziel sein mag – droht seine Verwirklichung die Gesundheit zu gefährden, müssen das Vorhaben und seine Umsetzungsstrategie infrage gestellt werden. Dafür bietet eine Beobachtungsphase den nötigen Raum. Ein mehrtägiger oder mehrwöchiger Beobachtungszeitraum hilft herauszufinden, ob der Moment zum Aufhören vorliegt. Die Länge der Beobachtungsphase kann individuell festgelegt werden und sich unter anderem danach richten, wie komplex das Vorhaben ist. Sind beispielsweise andere darin involviert, ist ein ausgiebiger Zeitraum angemessen. Wenn es sich bei dem Ziel um einen großen persönlichen Traum handelt, ist ebenfalls eine längere Beobachtungsperiode ratsam.
In dieser Zeit sollte die zentrale Aufmerksamkeit folgenden drei ausschlaggebenden Elementen gelten: dem körperlichen Wohlbefinden, der emotionalen Lage sowie der rationalen Analyse der Situation. Diese drei Faktoren werden im Alltag allzu häufig übergangen. Aber gerade sie bieten entscheidenden Aufschluss darüber, ob man am Ziel festhalten oder aber es aufgeben sollte.

Wenn das Vorhaben zu hoch gesteckt ist oder die Umstände seine Realisierung erschweren, droht Stress. Er kann auffällige Schwankungen und ein Nachlassen des körperlichen Wohlbefindens bewirken. Zu den Symptomen gehören beispielsweise Schlaflosigkeit, anhaltende Unruhe und Antriebslosigkeit. Die Intensität dieser Stressreaktion sollte während des gesamten Zeitraumes beobachtet werden.
Auch gilt es aufmerksam gegenüber dem seelischen Wohlbefinden zu sein. Forscher wie der bekannte Neurowissenschaftler Antonio Damasio haben gezeigt, wie wichtig Gefühle und Empfindungen für unsere Entscheidungsfindung sind. Konsequent in sich hineinzuhorchen und auf die Gefühle rund um das gesteckte Ziel zu achten bringt den Entscheidungsprozess voran. Wie fühle ich mich? Bin ich unzufrieden? Empfinde ich zunehmend Machtlosigkeit? Ein schleichendes Gefühl des Kontrollverlusts ist ein Anzeichen dafür, dass die Zielsetzung zu viel abverlangt. Sind die Möglichkeiten der Zielerreichung erschöpft, so können Gefühle von Hoffnungslosigkeit, eventuell auch depressive Störungen entstehen. Die unterschiedlichen Gefühle und Stresssymptome können über den Tag verteilt in einem knappen Tagebuch festgehalten werden. Diese Dokumentation visualisiert die Grundhaltung gegenüber dem Vorhaben und seiner Umsetzung. Dadurch erleichtert sie die Entscheidung für oder gegen das Aufgeben.

„Soll ich aufhören oder weitermachen?“

Ebenso unerlässlich ist eine rationale und möglichst objektive Auseinandersetzung mit dem Ziel, den Umständen sowie der Strategie. Gerade wenn man sich mit seinen Gedanken in der Grauzone zwischen Festhalten und Loslassen ertappt, lohnt es sich, den Zweifeln zu folgen und zumindest einzelne Aspekte des Zielstrebens sorgfältiger abzuwägen. Skepsis und Unentschiedenheit sollten grundsätzlich nicht als Zeichen von Schwäche oder Mangel an Entschlossenheit gewertet und einfach abgetan werden. Vielmehr dienen sie als ein wichtiger Anhaltspunkt, dass etwas nicht in Ordnung ist und womöglich Veränderungen angebracht sind. Zweifel sind ein nützlicher Denkanstoß.
Um eine möglichst objektive und realistische Auswertung der Lage zu erhalten, sollte auf den Umgang mit Informationen geachtet werden. Denn auch hier können psychische Mechanismen wie der sunk cost effect die Informationsverarbeitung zugunsten der Zielerreichung prägen. Wer diesen Einfluss bedenkt, fällt ihm seltener zum Opfer. Auch Außenstehende können auf mögliche Urteilsverzerrungen aufmerksam machen. Weil sie mehr Abstand zu den Vorgängen besitzen, schätzen sie die Situation häufig objektiver ein. So liefern sie Beobachtungen und Hinweise, die einem selbst leicht entgehen.

Wie man richtig loslässt

Wenn die Fragen beantwortet, die Signale gedeutet sind und der Entschluss zum Aufhören feststeht – was gibt es bei seiner Umsetzung zu beachten? Die wichtigste Regel lautet: Nicht alles stehen- und liegenlassen, nicht das gewohnte Verhalten abrupt beenden. Hilfreicher und auch weniger belastend ist es, in mehreren, kleineren Schritte aufzuhören. Dabei gilt es, nicht nur dem Umfeld respektvoll gegenüberzutreten, sondern auch mit sich selbst behutsam umzugehen. So gerät der Boden unter den Füßen nicht ins Wanken. Denn das Aufgeben wird in den meisten Fällen von einer Zeit der erhöhten Sensibilität begleitet. Laut dem amerikanischen Persönlichkeitspsychologen Eric Klinger ist diese Phase ein psychisches Erdbeben. Das liegt daran, dass Ziele und Wünsche stets eng mit der eigenen Identität verbunden sind. Je zentraler das losgelassene Ziel für die persönliche Lebensplanung, umso schwieriger und belastender kann der Ablösungsprozess verlaufen. In dieser Phase helfen Anpassungsmechanismen. Einer lässt sich mit Schönreden umschreiben. In seiner Tierdichtung „Der Fuchs und die sauren Trauben“ erzählt Äsop von einem traubenhungrigen Pfiffikus, der die süßen Früchte am hohen Weinstock nicht zu fassen bekommt. Er versucht mehrmals vergebens sein Glück. Daraufhin rümpft der Fuchs die Nase: Die Trauben seien ihm noch nicht reif genug. Mit diesen Worten und einem erhobenen Haupt spaziert er von dannen. Äsops Fuchs, so könnte man meinen, redet sich seine Niederlage schön. Er will nicht dumm dastehen und zieht es vor, sein Selbstbewusstsein zu schützen.

Das mag wie Leugnen und Selbsttäuschung aussehen – ist jedoch eine natürliche Reaktion und Teil des Anpassungsprozesses. Psychologen, die sich mit Bewältigungsforschung befassen, sprechen der vermeintlichen Selbsttäuschung eine besondere Rolle zu. Zunehmend wird erkannt, welche Bedeutung solche Prozesse gerade für die Bewahrung einer positiven Selbst- und Lebensperspektive und die emotionale Bewältigung von Einschränkungen und Verlusten haben. Eine solche Reaktion fördert die die Stabilisierung des Seelenheils. Zu dieser Stabilisierung kann der Einzelne ebenfalls beitragen, indem er sich zum Beispiel neue Ziele steckt. Die neue Aufgabe – und sei es nur eine Freizeitbeschäftigung, die man schon immer einmal ausprobieren wollte – gibt Perspektive und hilft, ein Gefühl der Leere zu mildern oder gänzlich zu vermeiden. Auf diese Weise fällt es leichter, sich zu regenerieren. „Das Aufmerksamkeitsfeld öffnet sich wieder für Reize und Handlungsoptionen, die zuvor ausgeblendet wurden“, sagt Brandstädter- Morawietz. Und mit der Zeit lassen sich so Ressourcen für neue Unternehmungen schöpfen. So vermag das bedachte Aufgeben das Gleichgewicht der Seele wiederherzustellen.

Fazit: Durchhalten ist nicht immer gut. Aufgeben ebenso nicht. Und so schwer es auch scheinen mag, zu erkennen, wann welches Vorgehen gefragt ist, so stehen uns doch wertvolle Entscheidungshilfen zur Verfügung. Deshalb sollten wir stärker auf die eigenen Signale achten und uns weniger von unseren Träumen blenden lassen oder und von den gesellschaftlichen Ansprüchen und Überzeugungen.

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