Wenn Studenten aus welchen Gründen auch immer das Falsche studiert haben, kann eines helfen: Mutig sein und einen Neuanfang wagen. Oft lohnt es sich.
Liebe auf den zweiten Blick: Zweitstudium
von Nicole Gutmann
Am Anfang stand ein diffuses Gefühl der Unzufriedenheit. Anna Lidan, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, begann 2006 Chemie zu studieren – ein solides Studium mit guten Berufsaussichten. Die Eltern hatten es empfohlen, die große Schwester vorgemacht. Das verheißungsvolle Studentenleben begann, doch der Spaß an Freiheit und Partys wollte sich nicht einstellen. „Ich konnte lange nicht konkretisieren, woran es lag“, erinnert sich die 26-Jährige. „Ich dachte immer, das Problem wäre die Stadt oder dass ich nicht mit den Dozenten zurecht gekommen bin.“ Eigentlich wollte Lidan weg aus ihrer Heimatstadt. Aus finanziellen Gründen entschied sie sich, doch zu bleiben und dort zu studieren. Die Umstände an der Universität klingen für manche wie ein Paradies, für die junge Frau waren sie eine Qual: „Wir waren ein kleiner Jahrgang, fast jeder Professor kannte dich mit Namen.“ Wer jedoch in einer Vorlesung nicht fit war, weil zum Beispiel die letzte Nacht zu kurz war, fiel auf. Statt Unabhängigkeit Kontrolle wie zu Schulzeiten.
„Überhaupt in einer Vorlesung zu sitzen war schon zu viel“
Nach drei Jahren wechselte sie die Universität. Am Gefühl der Unzufriedenheit änderte das nichts. Es folgten ein weiterer Wechsel und ein Umzug in eine andere Stadt. Ihrer Heimatstadt endlich entkommen wurde Lidan dennoch nicht glücklich: „Ich dachte mir, du bist an der dritten Uni und quälst dich immer noch. Überhaupt in einer Vorlesung zu sitzen war schon zu viel.“ Sie hatte einen Punkt erreicht, an dem kein Zweifel mehr bestand – nicht das Drumherum war das Problem, sondern das Studienfach. Nach Jahren des Kampfes gestand sich Lidan dies ein. Und entschied sich ihrem Talent und ihrer Neigung für Sprache, Literatur und Kultur zu folgen: Seit 2011 studiert sie mehrsprachige Kommunikation. „Ich gehe jetzt gerne zu den Vorlesungen und es macht mir richtig Spaß zu lernen“, sagt die Studentin. „Wenn man sich einmal entschieden hat und seinen Weg geht, dann läuft es auch.“
Nicht allein auf gute Ratschläge verlassen
Lidan hat es sich nicht leicht gemacht, tut es immer noch nicht. Die letzten ausstehenden Prüfungen für den Bachelor in Chemie absolviert sie neben ihrem neuen Studium. Ganz konnte sie sich nicht von dem Ratschlag ihrer Eltern lösen. Allein auf gute Ratschläge sollte sich kein angehender Student verlassen. Eltern wollen zwar meistens das Beste für ihre Kinder. „Studieninteressierte werden bei der Studienfachwahl häufig von außen beeinflusst,“ sagt der Leiter des Info-Services. „Eigene Neigungen und Fähigkeiten treten dann als eigentlich wichtigste Entscheidungsfaktoren in den Hintergrund.“ Bei der unüberschaubaren Anzahl von Studiengängen orientierten sich die Unentschlossenen gerne an ihren Eltern beziehungsweise deren Ratschlägen. Das kann funktionieren. Bei manchen kollidieren jedoch irgendwann Wünsche und Erwartungen mit der Wirklichkeit.
Reicht die Motivation noch für die nächsten zehn Jahre?
Ähnlich verlief es bei Markus Stegmann. Obwohl er sich nach dem Abitur schon für das Lehramtsstudium beworben hatte, schwankte er noch. „Ich hatte schon immer die Idee, Lehrer zu werden, aber Medien und Kommunikation haben mich auch interessiert“, erzählt der heute 32-Jährige. „Meine Eltern wollten mir bei der Entscheidung helfen. Also haben sie Gespräche mit Bekannten organisiert, die Lehrer waren.“ Diese rieten ihm vom Lehramt ab. Ebenso die Berufsberater des Arbeitsamtes, mit dem Hinweis auf die damals schlechten Einstellungschancen für Lehrer. Stegmann entschied sich um und studierte fortan Medienwissenschaften. Nach sechs erfolgreichen Jahren in seinem Beruf als Kommunikationsberater zog er eine Zwischenbilanz. Der Beruf sei unglaublich spannend gewesen, er habe viel gelernt, sagt Stegmann. „Am Ende ging es um die Frage: Reicht meine Motivation, um das noch zehn oder zwanzig Jahre zu machen? Dafür hat mir die Arbeit inhaltlich nicht mehr genug gegeben. Meine Chefs waren mit mir zufrieden, aber ich war es nicht.“ In der PR-Branche konnte Stegmann zwar seine kommunikative Stärke ausleben. Doch was ihn wirklich motivierte, nämlich Verantwortung zu übernehmen und Wissen zu vermitteln, kam zu kurz. So sprang der junge Familienvater 2010 über seinen Schatten, gab Sicherheit und Geld auf, um seinen Traum zu leben. Mittlerweile steht Stegmann kurz vor dem ersten Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien und fühlt sich angekommen: „Der erste Schritt war der schwerste. Aber die Praxisphasen in der Schule haben bestätigt, dass das genau mein Ding ist. Die Veränderung zu wagen, war goldrichtig.“
Die Biografien von Lidan und Stegmann sind zwei Beispiele einer radikalen Umkehr. In der persönlichen Biografie findet sich immer ein roter Faden. Es sind die „kleinen Geschichten am Rande, die Nuancen zwischen den Sätzen“, die Interessen und Leidenschaften verraten. Die meisten Menschen wissen, woran sie Spaß haben. Oftmals fehlt ihnen jedoch der Mut: „Ein Zeichen, dass die Entscheidung nicht endgültig getroffen wurde“. Wer allerdings den ersten Schritt wagt, setzt einen Prozess in Gang, aus welchem weitere Energie entsteht.
Eine Erfahrung, die Lidan und Stegmann bestätigen können. So rät auch der angehende Lehrer zu mehr Selbstverantwortung: „Man muss sich von den Erwartungen anderer frei machen und den Mut entwickeln, seinen eigenen Weg zu gehen.“
(Quelle: www.spiegel.de/ Karierespiegel)